Die „Anschluss“-Pogrome

Beschmiertes Auslagenfenster eines Geschäfts in Wien, März 1938 (Foto: ÖNB/Hilscher, 1074287)

Dem Historiker Gerhard Botz zufolge war der sogenannte „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich in den Märztagen des Jahres 1938 zugleich eine „Machtübernahme von unten, von oben und von außen“.1 Von außen durch eine militärische Invasion des Deutschen Reiches, von oben durch eine scheinbar legale Machtübergabe an lokale NS-Größen und von unten durch einen Putsch der seit dem Berchtesgadener Abkommen vom Februar 1938 de facto legalisierten österreichischen Nationalsozialisten.2

Die infolge des „Anschlusses“ abrupt einsetzende immense Verfolgung von Jüdinnen und Juden kann grob in zwei Phasen unterteilt werden: Die erste Phase von 1938 bis 1940 war geprägt durch Beraubung und Vertreibung, die zweite Phase ab 1941 durch Deportationen und Massenmord.3

In Wien war die NS-Machtübernahme von Beginn an von Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung sowie deren Demütigung und Beraubung im Zuge sogenannter „wilder Arisierungen“ begleitet.4 Bereits in der Nacht zum 12. März 1938 sahen viele Nazis in der Stadt ihre Gelegenheit gekommen. Im Zuge eigenmächtiger Hausdurchsuchungen drangen sie in Wohnungen ein, deren jüdische BewohnerInnen nun von der Polizei nicht mehr geschützt wurden. Sie „beschlagnahmten“ was ihnen gefiel 5 und gingen mit  außerordentlicher Brutalität vor.

Jüdische Wohnungen, Lokale und Geschäfte wurden mit antisemitischen Diffamierungen aller Art beschmiert,6 ihre Fensterscheiben eingeschlagen und die Einrichtung – so sie nicht entwendet wurde – vielfach zertrümmert und auf die Straßen geworfen. Jüdinnen und Juden jeden Alters wurden öffentlich verhöhnt, misshandelt und zur Verrichtung erniedrigender Handlungen gezwungen. Besonders entwürdigend für die Opfer waren die als „Reibpartien“ bezeichneten Aktionen: Jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden gezwungen,7 speziell Propagandaparolen, die kurz zuvor noch im Auftrag der Schuschnigg-Diktatur angebracht worden waren, „zur ‚Hetz’ eines gaffenden Publikums […] mit scharfer Lauge und bloßen Händen“8 von den Straßen der Stadt zu entfernen.

 

Ein britischer Augenzeuge berichtet

„Die erste Reibpartie sah ich auf dem Praterstern. Sie mußte das Bild Schuschniggs entfernen, das mit einer Schablone auf den Sockel eines Monuments gemalt worden war. SA-Leute schleppten einen bejahrten jüdischen Arbeiter und seine Frau durch die beifallklatschende Menge. Tränen rollten der alten Frau über die Wangen, und während sie starr vor sich hinsah und förmlich durch ihre Peiniger hindurchblickte, konnte ich sehen, wie der alte Mann, dessen Arm sie hielt, versuchte, ihre Hand zu streicheln. ͵Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für die Juden!ʹ heulte die Menge. ͵Wir danken unserem Führer, er hat Arbeit für die Juden geschafft!ʹ“9

 

Unter dem Eindruck des „Anschluss“-Terrors nahmen sich zahlreiche ÖsterreicherInnen aus Verzweiflung das Leben. Die Selbsttötungsrate stieg rasant an, alleine in den ersten beiden Wochen nach dem „Anschluss“ brachten sich in Wien 218 Personen um – so viele wie zuvor in einem Zeitraum von drei Monaten. Offiziellen Aufzeichnungen zufolge schieden in Wien 1938 insgesamt 1.358 Menschen freiwillig aus dem Leben. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher gelegen sein.10

In den Tagen nach der Volksabstimmung über den „Anschluss“ Österreichs nahmen sich auch mehrere Jüdinnen und Juden der Wieden das Leben. So beging am 11. April 1938 das Ehepaar Jaroslav und Rosa Fantl aus der Mühlgasse gemeinsam Selbstmord mittels Leuchtgas. Zwei Tage später wurde in ihrer Wohnung am Brahmsplatz das Ehepaar Anna und Hans Silberknopf mit Verdacht auf Vergiftung tot aufgefunden. Am 16. April beendete der Kaufmann Alfred Grazinger aus der Tilgnerstraße durch Einnahme eines Narkotikums sowie durch Leuchtgas sein Leben.11

 

 

NS-Propagandaminister Joseph Goebbels über den sprunghaften Anstieg von Selbstmorden in Wien

„[…] Das Judenproblem

Ich komme jetzt auf das J u d e n p r o b l e m. (Stürmischer Beifall.) Wenn man heute die Auslandpresse liest, so kommt man zu dem Eindruck, als ob sich in Wien täglich ein paar tausend Juden erhängen, erschießen oder vergiften. Es ist gar nicht an dem. Es sind in Wien augenblicklich nicht mehr Selbstmorde zu verzeichnen als früher, nur mit dem Unterschied: Früher haben sich nur Deutsche erschossen und jetzt sind auch Juden darunter. Daß wir die Juden aus der Presse und dem Theater entfernen, das versteht sich am Rande. Die Welt hat sich nicht aufgeregt, als im Jahre 1934 ein paar tausend Nationalsozialisten erschossen wurden. Das lag daraus im Sinne des Weltgewissens (empörte stürmische Pfuirufe). Wir l ö s e n  d i e  J u d e n f r a g e  a l s  F r a g e  d e r  R a s s e, d e s  B l u t e s  u n d  d e s  V o l k s t u m s, als eine Frage, die gelöst werden muß. (Stürmischer Beifall). […].“ 12

 

 

Matthias Kamleitner

  1. 1) Botz, Nationalsozialismus in Wien, 147
  2. 2) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 147–151
  3. 3)   Vgl. Freund/Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938–1945, in: Tálos/Hanisch/Neugebauer/Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich, 767–794, 767.
  4. 4) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 71.; Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung, in: Goschler/Lillteicher (Hg.), „Arisierung und Restitution“, 61–89, 70.
  5. 5)   Vgl. Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87; Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, 29–30.
  6. 6) Vgl. Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87
  7. 7) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 127; Safrian/Witek, Und keiner war dabei, 24.
  8. 8) Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87.
  9. 9)   George E.R. Gedye, Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien 1948, 295.
  10. 10) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 137.
  11. 11)   Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Wien, A/VIE/IKG WIEN/I-III/MA/Todesfallsanzeigen/1, Zl. 946 (Alfred Grazinger)/Zl. 964 (Rosa Fantl)/Zl. 965 (Jaroslaw Fantl)/Zl. 997 (Anna Silberknopf)/Zl. 998 (Hans Silberknopf).
  12. 12) Rede des Reichsministers Joseph Gobbels bei der Kundgebung in der Nordwestbahnhalle am 29. 3. 1938. Aus: Nun erhebe dich, Du deutsches Volk, Wiener Zeitung, 31. 3. 1938, 5-7, 7.

Vom "Anschluss" zum Holocaust