Die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung

Verladung des Gepäcks von Deportierten unter der Aufsicht des Wiener SS-Mannes Anton Zita (r). Hof des Sammellagers in der Kleinen Sperlgasse, ca. 1942. (Foto: Yad Vashem Photo Archive, FA4/62)

Ab März 1942 wurden im Generalgouvernement Hundertausende Menschen in neu eingerichteten Vernichtungslagern getötet. Benannt wurde die Vernichtungswelle später nach dem Chef des Reichssicherheitsauptamtes (der zentralen Terrorbehörde im NS-Staat) Reinhard Heydrich, der bei einem Attentat tschechoslowakischer Widerstandskämpfer im Juni 1942 ums Leben kam: Aktion Reinhard. Parallel dazu wurden die Deportationen aus Mittel- und Westeuropa intensiviert, so auch jene aus Wien. Um die Transporte leichter abwickeln zu können, wurde den in Wien verbliebenen Jüdinnen und Juden befohlen, sich in Sammellagern im zweiten Bezirk in der Kleinen Sperlgasse und der Malzgasse einzufinden, von wo sie zu den Zügen in den Osten gebracht wurden. 1 Die Erstellung der Deportationslisten hatte die Kultusgemeinde Wien zu übernehmen.2 Ab April 1942 gingen neben den bereits laufenden Deportationen ins Reichkommissariat Ostland auch Transporte in die im Distrikt Lublin gelegenen Orte Wlodawa und Izbica.3 Auch wenn zuvor kaum jemand Genaueres wusste und sich die meisten Betroffenen an die Hoffnung klammerten, es werde schon irgendwie weiter gehen, war doch allgemein klar, dass den Deportierten Schlimmes bevorstand.

Von den nach Riga verschleppten Menschen wurden viele in mobilen Gaskammern, den sogenannten Gaswägen, ermordet. Andere wurden unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit herangezogen und wieder andere in das im Norden Rigas gelegene Konzentrationslager Kaiserwald überstellt – auch dieses überlebten die wenigsten. Die ersten fünf der für Riga vorgesehenen Transporte aus dem Reichsgebiet wurden anders als geplant nach Kaunas in Lettland umgeleitet. Die dort eintreffenden Männer, Frauen und Kinder – darunter die 76-jährige Rosa Friedmann von der Wieden4 – wurden umgehend von Angehörigen der Einsatzgruppen erschossen. Die nach Minsk deportierten Jüdinnen und Juden fanden ab Mai 1942 bis auf wenige Ausnahmen im nahe gelegenen Vernichtungslager Maly Trostinec den Tod. Auch hier wurde mittels Gaswägen sowie Erschießungen gemordet. 5

Die zu Jahresbeginn 1942 insgesamt 5.000 aus Österreich nach Wlodawa und Izbica Deportierten wurden auf verschiedene Ghettos verteilt und mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder in den Vernichtungslagern Sobibor und Belzec ermordet oder im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek aufgrund von Zwangsarbeit, Misshandlungen und Unterernährung zu Tode gebracht. Ein weiterer für Izbica vorgesehener Transport im Juni 1942 wurde direkt nach Sobibor umgeleitet, wo die 950 Deportierten auf Befehl des Oberösterreichers Franz Stangl in Gaskammern getrieben wurden. Zu den Opfern von Sobibor zählte auch die Familie Sax aus dem vierten Bezirk. Neben den Eltern Sofie und Oskar Sax wurde auch deren 13-jährige Tochter Gertrud Sax ermordet.6

Von Juni bis Oktober 1942 wurden etwa 15.000 Jüdinnen und Juden aus Wien in 13 Transporten ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Zum einen diente die ehemalige Garnisonsstadt als Altersghetto, zum anderen aber auch als Durchgangsstation auf dem Weg in die Vernichtungsstätten. Ein einzelner für Theresienstadt vorgesehener Transport mit 1.000 WienerInnen wurde im Juli 1942 direkt nach Auschwitz umgeleitet. In ihm befanden sich auch Mina Birnholz mit ihrem sechsjährigen Sohn Paul aus der Preßgasse, die beide – vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft – ermordet wurden.7 Von Jänner 1942 bis Oktober 1944 wurden darüber hinaus insgesamt rund 87.000 Menschen von Theresienstadt weiterdeportiert, die meisten in die Vernichtungslager Maly Trostinec und Treblinka sowie nach Auschwitz. Nur etwa 3.000 der aus Theresienstadt weiterdeportierten Häftlinge überlebten. Adolf und Stefie Sass, die ursprünglich in der Schleifmühlgasse 20 gelebt hatten, waren nicht darunter. Sie wurden im Oktober 1942 nach Theresienstadt und zwei Jahre später, im Herbst 1944, nach Auschwitz deportiert, wo man sie umbrachte.8

Bis Juni 1943 befanden sich von den 200.000 österreichischen Jüdinnen und Juden nur noch 8.000 im Land – alle anderen waren geflüchtet oder deportiert und zumeist ermordet worden. Die großen Transporte waren nun zu Ende, bis Februar 1945 wurden noch einige Deportationen kleinerer Personengruppen nach Ausschwitz und Theresienstadt durchgeführt. Zu Jahresende 1944 zählte Wien nur noch etwa 5.800 jüdische BewohnerInnen, rund 100 lebten noch in Niederösterreich. 9

MATTHIAS KAMLEITNER

  1. 1) Vgl. Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 174-175.
  2. 2) Vgl. Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945, der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main 2000, 341.
  3. 3) Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794, 781.
  4. 4) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590,62, AFB-Nr. 18487 (Alfred Friedmann); DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Eintrag Rosi Friedmann, 9. 3. 2015).
  5. 5) Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794, 775-776.
  6. 6) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589,83, AFB-Nr. 32918 (Oskar Sax), DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Sofie, Oskar und Gertrud Sax, 7. 9. 2015).
  7. 7) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589,9, AFB-Nr. 3339 (Karl Birnholz); DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Mina und Paul Birnholz, 1. 10. 2015).
  8. 8) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590,196, AFB-Nr. 32918 (Adolf Sass), DÖW, Opfersuche, URL: http://www.doew.at (Einträge Adolf und Steffy Sass, 1. 10. 2015).
  9. 9) Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794, 783.

Deportation und Massenmord