Auf dem Weg zur Gleichberechtigung: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

Mai 1848: Wienerinnen und Wiener gemeinsam auf den Barrikaden. Die Revolution verwirklichte erstmals die Gleichberechtigung aller (männlichen) Staatsbürger.(Lithographie: Josef Heiche, 19. Jahrhundert)

Den Schritt, alle Konfessionen gleich zu behandeln und sämtliche antijüdischen Diskriminierungen tatsächlich zu beseitigen, unternahm erst die Revolution von 1848. Die auf den Druck der rebellierenden Bevölkerung hin verabschiedete Pillersdorf’sche Verfassung 1848 und die oktroyierte Märzverfassung 1849 sahen die Gleichstellung aller männlichen Staatsbürger vor. Auch der neue Kaiser Franz Joseph I. anerkannte erstmals die faktische Existenz einer israelitischen Gemeinde in der Residenzstadt. Daraufhin wurde es dieser möglich, sich 1850 auch formal zu konstituieren. 1

Die Zugeständnisse des Hofes an die Aufrührer des März 1848 in Form verfassungsmäßiger Rechte waren nie ernst gemeint. Sie sollten lediglich dazu dienen, der allgemeinen Empörung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sobald der Kaiser nach der blutigen Niederschlagung der Revolution seine Macht wieder ausreichend gefestigt hatte, erklärte er die Verfassung, die er selbst 1849 dekretiert hatte, mit dem sogenannten Silvesterpatent von 1851 für nichtig.2

Das nun folgende neoabsolutistische Regime revidierte einige rechtliche Errungenschaften der Revolution neuerlich, so wurde etwa der Immobilienerwerb durch Juden wieder beschränkt und die ungleiche Behandlung vor Gericht wieder eingeführt. Dennoch blieb das Gros der erreichten Gleichstellungsmaßnahmen bestehen.

Oktober 1848: Kaiserliche Truppen beschießen die revoltierende Residenzstadt Wien und setzen dadurch am 31. Oktober die Hofburg in Brand. Lithographie eines unbekannten Künstlers.

Der begonnene Emanzipations- und Integrationsprozess wurde also verlangsamt, aber nicht in sein Gegenteil verkehrt.3. Im Jänner 1852 erfolgte die behördliche Genehmigung des Statuts der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), wodurch die in der IKG organisierten Menschen als Religionsgruppe anerkannt wurden. 4 Es folgte eine 70 Jahre währende Blüte jüdischen Lebens in Wien, 5 das der Stadt die Erbauung von sechs Gemeindetempeln der IKG, 17 Vereinssynagogen und 78 Vereinsbethäusern bescherte, die sich über das ganze Stadtgebiet verteilten.6

Die erneut in Kraft gesetzten Diskriminierungen wurden mit dem schwächer werdenden Neoabsolutismus Ende der 1850er Jahre schrittweise wieder aufgehoben. Doch erst das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 sicherte die Gleichberechtigung rechtlich weitgehend ab.7 Betrachtet man die Monarchie in ihrer Gesamtheit, unterschied sich die Behandlung der jüdischen Minderheit mitunter stark je nach Region. Dies betraf nicht nur die ungarische und die österreichische Reichshälfte, sondern auch die cisleithanischen Länder. Im Vergleich zu den Ostprovinzen, wo es immer wieder zu gewalttätigen antijüdischen Ausschreitungen kam, gegen die lokale Behörden nur halbherzig vorgingen, schien vielen Betroffenen das Leben in Wien überaus attraktiv.8

Schlacht von Königgrätz

Die Niederlage in der Schlacht von Königgrätz gegen Preußen 1866 ist das letzte Glied einer Kette außenpolitischer Fehlschläge unter Franz Joseph I. Durch sie ist der Kaiser schließlich gezwungen, innenpolitisch Zugeständnisse zu machen. Das Resultat ist die sogenannte „Dezemberverfassung“ von 1867. Sie enthält erstmals verbriefte Rechte für die Untertanen – unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit.

Hatte die jüdische Gemeinde der Stadt 1860 noch 6.200 Köpfe gezählt, versechsfachte sich diese Zahl binnen eines Jahrzehnts und betrug im Jahr 1870 rund 40.000 Menschen. Bis zur Jahrhundertwende war die jüdische Bevölkerung Wiens auf knapp 150.000 Personen angewachsen, was 8,8 % der Wiener Gesamtbevölkerung entsprach.9. Selbst wenn man berücksichtigt, dass sich die Einwohnerzahl der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt vervierfachte, war das starke Anwachsen der jüdischen Gemeinde eindrucksvoll. Jüdische NeowienerInnen siedelten sich mehrheitlich im zweiten und dem zur Jahrhundertwende von diesem abgetrennten 20. Bezirk an; mit deutlichem Abstand folgten der Alsergrund und die Innere Stadt. Ausschlaggebend für die Herausbildung jüdischer Wohngegenden war neben dem größeren Angebot vergleichsweise billigen – weil schlechten – Wohnraums10 ein jüdisches Sozialleben samt einer entsprechenden Infrastruktur, die neben koscheren Geschäften, Synagogen und Beträumen, vor allem auch Schulen umfasste.11 Auch in den genannten Bezirken blieben die jüdischen EinwohnerInnen freilich eine Minderheit.

Orthodoxe Juden in Wien

Seit ihrer rechtlichen Gleichstellung wächst die jüdische Bevölkerung Wiens stark an. Die meisten jüdischen Zuwanderer lassen sich im 2. und 20. Bezirk nieder. Hier befinden sich die meisten religiösen und kulturellen Einrichtungen, die besonders Strenggläubigen wichtig sind. In Bezirken wie der Wieden siedeln sich dagegen eher assimilierte, wohlhabendere Juden und Jüdinnen an. (Foto: ÖNB, PCH 17.954 B)

 

Florian Wenninger

  1. 1) Vgl. Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution, Wien–München 2004, 23.
  2. 2) Vgl. Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, München 2002, 206.
  3. 3) Vgl. Elisabeth Emsenhuber, Die Wiener Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Soziale und Familiäre Aspekte, phil. Diss., Wien 1982; Oliver Rathkolb, Demokratieentwicklung in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, in: Information zur Politischen Bildung 28 (2008), 5–17, 7.
  4. 4) Vgl. Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution, Wien–München 2004, 23.
  5. 5) Zur Relativität der Abgrenzbarkeit eines „jüdischen“ von einem „nichtjüdischen“ Wien vgl. Klaus Hödl, Wiener Juden – Jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck–Wien–Bozen 2006.
  6. 6) Vgl. Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution, Wien–München 2004, 38; siehe außerdem Pierre Genée, Wiener Synagogen 1825–1938, Wien 1987.
  7. 7) Allerdings standen Juden trotz des besonders bedeutsamen Artikels 19 (später 21) der Dezemberverfassung nach wie vor nicht alle Ämter im Staat offen, vgl. Isak A. Hellwing, Der konfessionelle Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Österreich, Wien 1972, 35f.
  8. 8) Vgl. Almut Meyer, „… der Osten Europas schüttet sie aus…“ Zur Migration osteuropäischer Juden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hg.), Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien, Wien 2000, 21–31.
  9. 9) Vgl. Leo Goldhammer, Die Juden Wiens. Eine statistische Studie, Wien–Leipzig 1927, 9.
  10. 10) Nach Stichproben im Jahr 1919 lebten im Schnitt in einem jüdischen Haushalt im zweiten und 20. Bezirk fast sechs Personen pro Wohnraum, was selbst unter den damaligen Verhältnissen als äußerst dicht gedrängt gelten musste, Vgl. Goldhammer, Juden, 60.
  11. 11) Vgl. Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867–1914, Wien–Köln–Graz 1988, bes. 80–105.

Jüdische Wieden vor 1938