Die wichtigsten religiösen Einrichtungen der jüdischen Wieden lagen jenseits der Bezirksgrenzen. 1 Seit 1876 bestand ein gemeinsamer Synagogen-Verein für zwei Bezirke, der Israelitische Tempel-Verein für Wieden und Margarethen in Wien. 2 Später erhielt er den Beinamen Beth Aharon. 3 Anfangs hatte der Verein ein bescheidenes Bethaus im fünften Bezirk in der Margaretenstraße 73 betrieben,4 aus dem im Jahr 1896 eine echte Synagoge werden sollte. Ein eigens gegründeter Synagogenbau-Verein verfolgte den Zweck „der Erbauung und Errichtung einer eigenen Synagoge im Bezirke Wieden oder Margarethen [sic!]“. 5 Ein Jahr später legte dieser Verein einen ersten Entwurf einer „Huldigungssynagoge für den IV. und V. Bezirk“ 6 vor. Bis zur Verwirklichung des Vorhabens vergingen neun Jahre. Im Jahr 1908, anlässlich des 60. Thronjubiläums des österreichischen Monarchen, wurde schließlich der Kaiser-Franz-Joseph-Regierungs-Jubiläumstempel in der Siebenbrunnengasse 1A feierlich eingeweiht. 7 Als Architekt fungierte Jakob Gartner, der zwischen 1896 und 1909 insgesamt vier Synagogen in Wien entwarf. 8
Neben dem Jubiläumstempel und dem Bethaus Beth Aharon existierte im fünften Bezirk seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein weiteres Bethaus, das sich ausdrücklich auch an BewohnerInnen der Wieden richtete9 und durch den Verein Machsike Thora 10 in der Wiedner Hauptstraße 83 betrieben wurde.11 Nicht weit jenseits des Gürtels, in der Favoritner Humboldtgasse 27, existierte außerdem seit 1896 der Humboldttempel des 1876 gegründeten Israelitischen Tempel- und Schulverein Favoriten. 12 Der dortige Oberkantor, Simon Weiss, lebte mit seiner Familie seit 1930 in der Favoritenstraße 23. Im Jahr 1939 gelang ihm und seinen Angehörigen die Flucht nach Großbritannien.13
Bis 1940 lösten die NS-Behörden fast alle „jüdischen“ Organisationen in Wien auf.14 Mindestens zehn der amtlich aufgelösten Vereine waren entweder auf der Wieden ansässig gewesen oder hatten ihre Tätigkeit mindestens teilweise auf den vierten Bezirk bezogen.
In der Synagoge in der Siebenbrunnengasse hatte neben Beth Aharon auch der Israelitische Frauen-Wohltätigkeitsverein für Wieden und Margareten in Wien15 seinen Sitz. Auf der Wieden selbst konzentrierte sich das jüdische Vereinswesen auf zwei Standorte: In der Paniglgasse 5 betrieben zwei religiöse Vereine, Ahawat Thora und Jawne16 gemeinsam ein Bethaus und waren außerdem karitativ tätig.17 In der Hauslabgasse 2 war die Zionistische Ortsgruppe Wieden-Margareten18 ansässig, desgleichen der Bund Jüdischer Frontsoldaten Österreichs.19 Eine andere Veteranenorganisation, die Österreichische Ärztevereinigung jüdischer ehemaliger Frontkämpfer,20 traf sich in der Favoritenstraße 72.
Zumindest vordergründig verschrieb sich der im ersten Bezirk angesiedelte Klub Adolf Stand Wieden-Margareten21 ganz in der Diktion der austrofaschistischen Propaganda „der Pflege der vaterländisch österreichischen Gesinnung“22 Tatsächlich handelte es sich um einen polnisch-zionistischen Klub, benannt nach dem aus Galizien stammenden Reichsratsabgeordneten Adolf Stand.23. Eine deklariert aufklärerische Agenda verfolgte dagegen die Spinoza Gesellschaft in Wien, deren Mitglieder sich in der Weyringergasse 27A trafen, um im Geiste ihres Namenspatrons, des holländischen Philosophen mit jüdischen Wurzeln Baruch de Spinoza, einen Beitrag zu einem rationalen Weltbild zu leisten.24.
Zusammenfassend handelte es sich bei der jüdischen Bevölkerung der Wieden vor 1938 um eine Gruppe von tendenziell arrivierten, gut ausgebildeten Menschen, die in Kleinfamilien lebten. Eine deutliche Mehrheit war bereits in Wien geboren worden, die Übrigen waren schon seit Jahrzehnten hier ansässig. Von ihrer sozialen Stellung her dominierten Mittelschichten, vornehmlich Angestellte und Freiberufler, wobei vor allem die vergleichsweise hohe Qualifikation unter Frauen hervorsticht. Entgegen der bis heute weit verbreiteten Vorstellung vom „reichen Juden“ zählten auch auf der wohlhabenden Wieden die wenigsten Jüdinnen und Juden tatsächlich zum Großbürgertum (wie die Familie Rothschild als bekanntestes Beispiel im Bezirk). Was das religiöse Leben betraf, so bildeten orthodoxe Jüdinnen und Juden, die etwa im zweiten Bezirk stark vertreten waren, auf der Wieden eine Minderheit. Die Religiosität der Wiedner Jüdinnen und Juden unterschied sich kaum von derjenigen ihrer nichtjüdischen Nachbarn, abgesehen davon, dass die Gläubigeren unter ihnen ihre Gotteshäuser an den Samstagen statt an den Sonntagen aufsuchten. Angenommen, dass – wie im österreichischen Durchschnitt – etwa die Hälfte der Jüdinnen und Juden auf der Wieden in Vereinen organisiert war, fand dieses Vereinsleben wohl zu guten Teilen nicht in spezifisch „jüdischen“ Organisationen statt. Auch dieser Aspekt spricht dafür, dass es sich bei der Wiedner jüdischen Bevölkerung um eine eher assimilierte Personengruppe handelte, die ihr Judentum vor allem als kulturelle Traditionslinie verstand.
- 1) der vorliegende Text profitiert in vielfältiger Weise von den Forschungs- und Rechercheergebnissen von Matthias Kamleitners. Ihm möchte ich an dieser Stelle danken.
- 2) Vgl. Statuten des Israelitischen Tempelvereins für Wieden und Margareten in Wien, 1876. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 1435,1.
- 3) Vgl. Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Verein Beth Aharon, Israelitischer Tempelverein für die Bezirke Wieden und Margarethen [sic!] in Wien, 26. 2. 1939. ÖStA, AdR, Zivilakten der NS-Zeit, Stillhaltekommissar Wien, 31-A 5,2.
- 4) Vgl. Statuten des Israelitischen Tempelvereins für Wieden und Margareten in Wien, 1876. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 1435,1.
- 5) Statuten des Synagogenbau-Vereines für die Bezirke Wieden und Margareten in Wien, 1896. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 1436.
- 6) Entwurf der Huldigungssynagoge für den IV. und V. Bezirk, 1897. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 3011.
- 7) Bob Martens/Herbert Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens. Virtuelle Spaziergänge, Wien 2009, 71f.
- 8) Pierre Genée, Wiener Synagogen, Wien 1987, 79–83.
- 9) Vgl. „Statuten des Bethaus-Vereines „Machsiku Thora“ in Wien, 29. 9. 1904. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Machsiku Thora (Anstalten der heiligen Lehre)/1/1 [Originalquelle: WStLA, Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 4575/1938).
- 10) Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 4575/1938.
- 11) Vgl. Synagogen und Bethäuser im Bereich der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 1. 1. 1938. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 1267; Pierre Genée/Bob Martens/Barbara Schedl, Jüdische Andachtsstätten in Wien vor dem Jahre 1938, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift (2003) 59, URL: http://www.davidkultur.at (abgerufen am 11. 5. 2015).
- 12) Vgl. Synagogen und Bethäuser im Bereich der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 1. 1. 1938; Martens/Peter, Synagogen, 113.
- 13) Vgl. Auswandererfragebogen Nr. 15988, Simon Weiss, 12. 5. 1938. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590,260; Yukiko Sakabe, Das Schaffen jüdischer nationaler Musik und dessen Problematik in Zusammenhang mit Veranstaltungen jüdischer Musikvereine in Wien 1918–1938, Dipl. Arb., Wien 2000, 100. Sakabe zufolge hatte Weiss, anders als im Auswanderungsbogen angegeben, seinen Wohnsitz nicht in der Favoritenstraße 23 sondern in der Belvederegasse 42.
- 14) Vgl. Duizend-Jensen, Angelika Shoshana, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission), Wien–München 2004, 37f., 97, 115.
- 15) Vgl. Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Israelitischer Frauen-Wohltätigkeitsverein für Wieden und Margareten, 12. 8. 1938. ÖStA, AdR, Zivilakten der NS-Zeit, Stillhaltekommissar Wien, 31-G 7.
- 16) Vgl. Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Israelitischer Bethausverein Ahawat Thora, 5. 1. 1940. ÖStA, AdR, Zivilakten der NS-Zeit, Stillhaltekommissar Wien, 31-A 4/1; Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Jawne – Verein zur Förderung des Studiums von Bibel und Talmud. ÖStA, AdR, Zivilakten der NS-Zeit, Stillhaltekommissar Wien, 31-P 22.
- 17) Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Jawne – Verein zur Förderung des Studiums von Bibel und Talmud. ÖStA, AdR, Zivilakten der NS-Zeit, Stillhaltekommissar Wien, 31-P 22.
- 18) Vgl. Statuten Zionistische Ortsgruppe, Bezirkssektion Wieden-Margarethen [sic!], 1920. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Zionistische Ortsgruppe Wieden, Margarethen [sic!]/1/1. Originalquelle: WStLA, Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 6452/1938; Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Zionistische Bezirkssektion Wieden-Margareten, 5. 9. 1938.
- 19) Vgl. Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Bezirksgruppen IV./V., 14. 10. 1938. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs/1/3. Zur Geschichte der Organisation vgl. Susanne Korbel, Bund Jüdischer Frontsoldaten Österreich, Dipl. Arb., Graz 2014.
- 20) Vgl. Schlussbericht Stillhaltekommissar Wien, Österreichische Ärztevereinigung jüdischer ehemaliger Frontkämpfer, 26. 6. 1939. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Österreichische Ärztevereinigung jüdischer ehemaliger Frontkämpfer/1/1 [Originalquelle: WStLA, Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 3690/1934.
- 21) Vgl. Statuten des Vereins Klub Adolf Stand, 15. 7. 1936. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Klub Adolf Stand Wieden-Margarethen [sic!]/1/1. [Originalquelle: WStLA, Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 5345/1936.
- 22) Vgl. Statuten des Vereins Klub Adolf Stand.
- 23) Für diesen Hinweis danke ich Dieter Hecht. Siehe auch die Beiträge in: Chilufim. Zeitschrift für jüdische Kulturgeschichte 7/2009.
- 24) Vgl. Statuten Spinoza Gesellschaft in Wien, 1936. Archiv der IKG Wien, Kopienbestand, A/VIE/IKG/I-III/VEREI/Spinoza Gesellschaft in Wien/1/1 [Originalquelle: WStLA, Bestand 1.3.2.119.A32 – Gelöschte Vereine, 805/1936.