Das Aufkommen des politischen Antisemitismus ab den 1870er Jahren

Gummifarbrik

Österreichisch-Amerikanische Gummifabrik (Semperitwerke), um 1890. Mit dem wirtschaftlichen Boom nimmt die ökonomische Konkurrenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zu. Diese Dynamik bringt gerade das alteingesessene Wiener Gewerbe unter Druck. In der Hoffnung, Profit aus den verbreiteten Ängsten zu schlagen, präsentieren verschiedene konservative Politiker bald denselben Schuldigen: den „Jud‘“. (Foto: ÖNB 55.227C)

Die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Wiens um die Jahrhundertwende war sozial den unteren Mittelschichten zuzurechnen. Infolge struktureller Diskriminierung hatten Juden und Jüdinnen kaum die Möglichkeit, in den Öffentlichen Dienst einzutreten. Sie blieben auch in der Industrie deutlich unterrepräsentiert. Dagegen waren jüdische Beschäftigte etwa stark in Handel und Gewerbe vertreten. Die jüdische Arbeiterschaft war mehrheitlich nicht in der Industrie, sondern in kleinen Werkstätten und in Heimarbeit beschäftigt. Mit dem Zuzug ab den 1860er Jahren entstand auch rasch ein jüdisches Großbürgertum. Doch nicht nur die jüdischen Handwerker, Industriellen und Bankiers stellten für die nichtjüdischen Eliten eine neue, unliebsame Konkurrenz dar. Als besonders bildungsaffine Bevölkerungsgruppe nützten Juden (und seit der Jahrhundertwende auch zunehmend Jüdinnen) den Umstand, dass die letzten Zugangshürden im Bildungssystem gefallen waren. Die besser ausgebildeten Kinder der zugewanderten jüdischen Familien drangen einerseits stark in Angestelltenpositionen und ins mittlere Management von Unternehmen vor, andererseits in akademische Berufe, und begannen auch zunehmend, das geistige und kulturelle Leben zu prägen.1 Neben den alteingesessenen Gewerbetreibenden erblickte auch das nichtjüdische Bildungsbürgertum in dieser Entwicklung eine veritable Gefahr für das eigene Fortkommen.2.

 

Gleichzeitig wurde die Liberalisierung und Dynamisierung des Wirtschaftslebens seit den 1860er Jahren, welche den ökonomischen Konkurrenzdruck erheblich anwachsen ließen, von katholischen wie völkischen Agitatoren vor allem auf jüdische Einflüsse zurückgeführt, konkret auf das „jüdische“ Großkapital.3

 

Die Frage der jüdischen Emanzipation warf in- und außerhalb der jüdischen Gemeinden die Frage nach einer jüdischen Nationalität auf: Wie weit sollte man sich nach der rechtlichen Gleichstellung an seine nichtjüdische Umgebung anpassen? Der erstarkende Deutschnationalismus, der vor allem im nichtjüdischen Bildungsbürgertum verbreitet war, pochte dagegen darauf, dass das Judentum keine Religionsgemeinschaft, sondern ein „Volk“ sei – und als solches ein „Fremdkörper“.4

Schließlich geriet die jüdische Bevölkerung noch aus einem dritten Grund ins Visier konservativer Kreise. Viele Juden und Jüdinnen fühlten sich der Aufklärung stark verbunden, weil sie auf einen Rückgang der christlich-religiösen Judenfeindschaft hofften. Naturgemäß sympathisierten viele von ihnen außerdem mit Emanzipationsbewegungen, die sich dem Prinzip der Gleichberechtigung verschrieben. Während zunächst der Liberalismus als politische Strömung dominiert hatte,5 schlossen sich seit der Jahrhundertwende viele junge Juden und Jüdinnen der aufkommenden Arbeiterbewegung an. Das prominenteste Beispiel war der Begründer der österreichischen Sozialdemokratischen Partei, Viktor Adler.

Victor Adler

Der Gründer der  Österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler (m., mit Rose im Knopfloch). Das rasche Erstarken der Sozialdemokratie befeuerte weiter die Ängste im ohnehin pessimistischen Bürgertum. Weil die Sozialdemokratie die einzige nicht-antisemitische Gruppierung war, zählten bald viele Juden und Jüdinnen zu ihren AnhängerInnen. Das wiederum bot antisemitischen Agitatoren Angriffsfläche. (Foto: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)

 

Konservative empfanden die sozialen Forderungen der Arbeiterbewegung als ernstzunehmende Bedrohung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen. Nicht die bittere Armut weiter Teile der Bevölkerung, sondern die Arbeiterorganisationen hielten sie für einen Spaltpilz in einer ansonsten vermeintlich geordneten Gesellschaft. Den relativ hohen Anteil jüdischer FunktionärInnen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften betrachteten Bürgerliche aller Schattierungen vor diesem Hintergrund als Beweis dafür, dass „die Juden“ nichts unversucht ließen, um „die Deutschen“ gegeneinander aufzubringen und sie so als Nation zu schwächen.

Nach dem Börsenkrach 1873 setzte sich 1873 eine jahrelange wirtschaftliche Abwärtsspirale in Bewegung. Die Auswirkungen trafen nicht nur die ärmsten Teile der Bevölkerung, sondern zogen vor allem auch das Gewerbe sehr in Mitleidenschaft.

 

Das Gemisch aus Antiliberalismus, Sozialistenhass, massiven Abstiegsängsten und einer Abneigung gegen alles Moderne führte ab den 1870er Jahren in Kombination mit einer massiven Wirtschaftskrise 6 zu einer starken Zunahme des Antisemitismus. Die Judenfeindschaft wurde ab den 1880er Jahren auch rasch zur politischen Geschäftsgrundlage der bürgerlichen Parteien – der Christlichsozialen ebenso wie der Deutschnationalen.7 Besonders erfolgreich nützte der spätere Obmann der Wiener Christlichsozialen und Bürgermeister, Karl Lueger, den Antisemitismus aus. Den Inhalt seiner Tiraden, die bis zu Mordaufrufen reichten, glaubte Lueger selbst freilich nicht. Seine Hetze folgte einer nüchternen Kosten-Nutzen-Überlegung. Nachdem er mithilfe des Feindbildes „Jud‘“ Karriere gemacht hatte, wurde ihm der Antisemitismus jedoch hinderlich:8 „wenn man einmal oben ist, kann man ihn [den Antisemitismus, Anm.] nimmer brauchen, denn dös is a Pöbelsport.“9 Die antijüdische Hetze wurde folglich im politischen Alltag reduziert, jedoch nicht gänzlich darauf verzichtet. Das christlichsoziale Parteiorgan, die Reichspost, hielt nüchtern fest:

„Nachdem jedoch der Antisemitismus zur Entwicklung und Machterweiterung der christlich-sozialen Partei wesentlich beigetragen hat, wird bei politischen Actionen auch fernerhin so lange an diesem rückschrittlichen Principe festzuhalten sein, bis dasselbe aufhört, eine Quelle der Kraft für die Partei zu bilden.“10 Speziell im Vorfeld der Wahlen 1900 und 1906 wurde ausgiebig aus dieser „Kraftquelle“ geschöpft.11

Der Wiener Sebastian Brunner (1814-1893) gehört mit Joseph Deckert und anderen Geistlichen zu den sogenannten „Hetzpfarrern“, die in Publikationen und Reden den Hass gegen die jüdische Bevölkerung schüren und zu den zentralen Agitatoren der Christlichsozialen gehören. Sie machen „den Juden“ für Aufklärung und Säkularisierung ebenso verantwortlich, wie für Kapitalismus und Sozialismus. Die gesamte Moderne sei letztlich nur das Resultat einer jüdischen Strategie zur Unterwerfung der Christenheit.

 

Die antijüdischen Ressentiments konnten demnach auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblicken, als sie während des Ersten Weltkriegs und danach neuerlich aktiviert wurden. Im zweiten Jahr des Krieges – zehntausende Soldaten waren bereits gefallen oder als Schwerversehrte heimgekehrt – musste die Wiener Bevölkerung hungern und es begann sich Verbitterung breitzumachen. Verantwortlich für den Nahrungsmangel waren neben dem Krieg an sich Misswirtschaft und Planungsfehler sowohl des Militärs als auch der Zivilverwaltung. Das rechte politische Spektrum hatte 1914 zu den vehementen Kriegsbefürwortern gezählt, zudem stellten die Konservativen auch nach dem Tod Karl Luegers 1910 den Bürgermeister. Für diese bestand daher Grund zur Sorge, für die katastrophalen Zustände in der Stadt gleich mehrfach verantwortlich gemacht zu werden. Vor diesem Hintergrund begannen Teile der Partei – ebenso wie die Deutschnationalen – einen alternativen Schuldigen in Stellung zu bringen: Die jüdische Bevölkerung, die zwischenzeitlich durch Flüchtlinge aus dem umkämpften Galizien abermals gewachsen war.12 Die Parole „Der Jud‘ is schuld“ griffen nach der Niederlage 1918 rechte Militärs und heimkehrende Offiziere auf. Wie schon in den 1890er Jahren wurde der Antisemitismus neben dem Antimarxismus zur Leitideologie des bürgerlichen Milieus und war ein prägendes Element aller Wahlkämpfe der Ersten Republik. So betrachtet war die Hetze, die in den 1920er Jahren eine kleine Splittergruppe betrieb, deren AnhängerInnen sich „Nationalsozialisten“ nannten, nichts Außergewöhnliches, auch wenn sie sich selbst für damalige Maßstäbe besonders aggressiv und vulgär gebärdeten.

 

Florian Wenninger

  1. 1) Vgl. Albert Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn – Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Brugger/Wolfram, Geschichte, 447–536, 478–484. Zum Wandel in der Berufsstruktur siehe auch Rozenblit, Juden, 55–79; Goldhammer, Juden, 66–69.
  2. 2) Vgl. Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 132f.; Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien–Köln–Weimar 1993, 54–81.
  3. 3) Vgl. Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, 178ff.
  4. 4) Vgl. Doris Sottopietra, Metamorphosen eines Konzepts. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung des Antisemitismus in Österreich, phil. Diss., Wien 1995, 48ff. Ein zeitgenössischer Debattenbeitrag fasste die gängigen Argumentationslinien zusammen und diskutierte sie gegeneinander, siehe Joseph Kolkmann, Die gesellschaftliche Stellung der Juden, Löbau 1876, bes. 9–23.
  5. 5)   Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien–Köln–Weimar 1993, 136-138
  6. 6) Vgl. Peter Eigner, Die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert. Ein Modellfall verzögerter Industrialisierung?, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 27 (1997) 3, online unter http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/b973lp.html (abgerufen am 30. 11. 2016).
  7. 7) Zur konkreten Ausformung vgl. Ursula Baudisch, Der Antisemitismus der Christlichsozialen im Spiegel der parteinahen Presse 1890 bis April 1897, phil. Diss., Wien 1967.
  8. 8)   Zur Person Lueger vgl. John Boyer, Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien–Köln–Weimar 2010.
  9. 9) Zit. n. Michael Schiestl, Judenfeindschaft und Antisemitismus in Österreich. Kontinuität und Wandel, phil. Diss., Wien 1992, 300.
  10. 10) Reichspost, 13. 10. 1896, 2.
  11. 11) Vgl. Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 73f.
  12. 12)   Vgl. Beatrix Hoffmann-Holter, Ostjüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914–1923, Salzburg 1994, bes. 162–248.

Jüdische Wieden vor 1938