Wer war die „jüdische Wieden“ vor 1938?

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Als die Nazis im März 1938 die Macht im Land übernahmen, war die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) die größte jüdische Gemeinde des deutschsprachigen Raums und die drittgrößte des Kontinents.1 2 Sie war allerdings nur etwa halb so groß wie die Nationalsozialisten anfangs glaubten, nachdem sie eine völlig aus der Luft gegriffene Schätzung Hermann Görings kritiklos übernommen hatten.3 Bei der letzten Volkszählung vor dem „Anschluss“, im Jahr 1934, gaben 176.034 Bewohnerinnen und Bewohner der Bundeshauptstadt als Religionszugehörigkeit „israelitisch“ an. Gemessen an der Wiener Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen entsprach das einem Anteil von etwa 9,4 %. Der Großteil der Wiener Juden und Jüdinnen lebte innerhalb des Eruvs. Diese symbolische Stadtmauer umschloss die Innenstadtbezirke sowie die Brigittenau 4 und gestattete es Gläubigen, all jene Tätigkeiten, die an Feiertagen nur zuhause ausgeübt werden dürfen, auch in diesem symbolisch erweiterten Rahmen zu verrichten. 5

Im vierten Bezirk deklarierten sich bei der Volkszählung 1934 insgesamt 5.125 Personen als jüdisch.6 Mit gut 9,6 % der Wiedner Gesamtbevölkerung entsprach das ziemlich genau dem Wiener Durchschnitt. Nach den Kriterien der Nazis freilich spielte das persönliche Glaubensbekenntnis keine Rolle. Weil ihre eigenen rassistischen Kriterien offensichtlich völlig nebulös waren, orientierten sich die NS-Behörden letztlich doch an religiösen Kriterien. Maßgeblich war zwar die „jüdische Abstammung“, aber um diese zu klären, wurde auf das religiöse Bekenntnis von Eltern und Großeltern zurückgegriffen.7 Überträgt man die in der Forschung gängigen Schätzungen für Wien auf die Wieden, so erhöht sich der Anteil derjenigen, die aufgrund ihrer „jüdischen Abstammung“ verfolgt wurden, um ungefähr 20 %. Das entspräche etwa 6.000 Verfolgten.8 Die nachfolgend dargestellten Untersuchungsergebnisse basieren, soweit es sich um statistische Aussagen handelt, vor allem auf Daten der Israelitischen Kultusgemeinde bzw. deren Mitgliedern. Sie sind daher nur eingeschränkt auf jene Menschen übertragbar, die zwar von den Nazis als „jüdisch“ verfolgt wurden, dies ihrem Selbstverständnis bzw. ihrem Religionsbekenntnis nach aber nicht waren.

Jüdisch geprägte Nachbarschaften, wie sie in anderen Bezirken – auch abseits der Leopoldstadt und der Brigittenau – existierten, 9 lassen sich für die Wieden nicht ausmachen. Sowohl die jüdische Wohnbevölkerung als auch deren wirtschaftliches Leben verteilten sich ohne erkennbare Gewichtungen über das gesamte Bezirksgebiet.

Zu über 3.000 Personen konnten im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes Informationen erhoben werden. Sie erlauben Rückschlüsse auf das Sozialprofil und beinhalten etwa Geschlecht, Alter, Geburtsort, Ausbildung und ausgeübten Beruf.10

 

Geschlechterverhältnisse

Mit etwa 52 % waren unter der jüdischen Bevölkerung des vierten Bezirks im Jahr 1938 Frauen eindeutig in der Mehrheit.11 Dieser Überhang fiel allerdings überraschend gering aus, denn im Wiener Durchschnitt waren von 100 BewohnerInnen mehr als 59 weiblich. 12 Für das ausgeglichenere Geschlechterverhältnis der jüdischen WiednerInnen bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten an: Einerseits war traditionell die Kindersterblichkeit in jüdischen Familien geringer, während diese im nichtjüdischen Segment überproportional häufig männliche Kinder betraf. Andererseits befanden sich unter denjenigen, die seit den 1890er Jahren aus den Provinzen bzw. Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nach Wien zugewandert waren, überproportional viele Männer – und überproportional viele Juden und Jüdinnen.13

 

Alter

Der Altersdurchschnitt der jüdischen Bevölkerung Wiedens lag mit 43,9 Jahren mehr als sechs Jahre über dem Wiener Niveau.14 Dieser Wert überrascht nicht, er war vielmehr für die vergleichsweise wohlhabende Bevölkerung der Innenstadtbezirke typisch, weil die fortgeschrittenen Alterskohorten stärker vertreten waren, während die im Schnitt ärmeren Menschen in den Außenstadtbezirken früher starben.15 Bereits in den 1920er Jahren ermittelte eine Studie für jüdische WienerInnen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als für die nichtjüdischen BewohnerInnen. 16 Daher kann der hohe Wiedner Altersschnitt als Hinweis auf eine relativ gute materielle Situation der jüdischen Bezirksbevölkerung gewertet werden.

 

Familienstand

Die Quote der Verheirateten Über-18-jährigen WiednerInnen war im Wiener Durchschnitt außerordentlich hoch, er lag gesamt bei 77 %, bei Frauen sogar bei 81 %. Zugleich lag der Anteil von Verwitweten deutlich unter dem stadtweiten Wert. 17 Wenigstens zum Teil lässt sich hier allerdings eine Verzerrung der Zahlen infolge der Quellengrundlage vermuten: Die herangezogenen Daten stammen vor allem aus den ab 1938 ausgefüllten „Auswanderungsbögen“ der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Entscheidung zur Auswanderung trafen junge Menschen tendenziell rascher als ältere. Außerdem waren Paare eher bereit als Alleinstehende, ihre Heimat hinter sich zu lassen und in der Fremde von vorne zu beginnen. Bei denjenigen, die auf sich allein gestellt die Flucht wagten, dominierten Männer – ein Phänomen, das sich auch bei heutigen Fluchtbewegungen zeigt. Die Älteren und Alleinstehenden – besonders Frauen – sind daher in den Quellen unterrepräsentiert.18

 

Bei einem anderen Wert ist eine solche Verzerrung nicht anzunehmen: Die Zahl der jüdischen Haushaltsangehörigen entsprach mit drei Personen exakt dem Wiedner wie dem Wiener Durchschnitt.19

 

Geografische Herkunft

Die Mehrheit der auf der Wieden lebenden Juden und Jüdinnen – über 58 % – war auf dem Gebiet der Republik Österreich geboren worden – vor allem in Wien. Im Gegensatz dazu waren knapp 58 % der restlichen jüdischen Bevölkerung der Bundeshauptstadt außerhalb Österreichs in den Grenzen von 1918 zur Welt gekommen.20 Weitere 15 % der jüdischen WiednerInnen waren aus dem Territorium der Tschechoslowakei zugewandert – wie auch ein ebenso großer Anteil der nichtjüdischen Bevölkerung.21 Vergleichsweise hoch war dagegen der Anteil jüdischer WiednerInnen, die ursprünglich aus Polen stammten: Während die in Polen Geborenen unter der nichtjüdischen Bezirksbevölkerung nur 2,8 % ausmachten, betrug ihr Anteil unter der jüdischen Bevölkerung mit 16 % mehr als fünfmal so viel. 22. Weitere 4,5 % der Juden und Jüdinnen auf der Wieden stammte aus Rumänien, 3,5 % aus Ungarn. Der Rest war mehrheitlich auf dem Gebiet Deutschlands, Jugoslawiens und der Sowjetunion geboren worden.

Diejenigen jüdischen WiednerInnen, die nicht in Wien geboren worden waren, hatten sich als Unter-30-Jährige überwiegend in den Jahren 1913 und 1914, sowie in den ersten beiden Jahren nach dem Ersten Weltkrieg im vierten Bezirk angesiedelt.23 Die große Fluchtbewegung vom galizischen Kriegsschauplatz in die Reichshauptstadt im Winter 1914/15 dürfte an der Wieden allerdings vorbeigegangen sein, was vor allem mit den geringen finanziellen Möglichkeiten der Flüchtlinge erklärt werden kann. 24

 

Beruf und Ausbildung

Bildung hatte in jüdischen Familien traditionell eine besonders hohe Bedeutung 25 – das unterstreicht auch ein Blick auf den Bildungsgrad der Wiedner Jüdinnen und Juden.26 So verfügten 36 % der Männer 27 und immerhin 15 % der Frauen 28 über einen Hochschulabschluss. Die Anzahl der weiblichen Hochschulabsolventinnen ist umso beeindruckender, als Frauen vor 1897 in Wien nicht zum Studium zugelassen gewesen waren. 29 Weitere 15 % der Männer und beinahe ebenso viele Frauen hatten maturiert. 36 % der Frauen und 18 % der Männer hatten eine Lehre abgeschlossen, viele davon auch eine Meisterprüfung bestanden. 30

Hinsichtlich der Berufsgliederung war unter Männern der überaus hohe Anteil selbstständiger Händler und Freiberufler (Ärzte, Anwälte, Architekten) auffällig,31 während Frauen vornehmlich in der unbezahlten Haus- und Erziehungsarbeit tätig waren. Unter den erwerbstätigen Frauen dominierte die Textil- und Bekleidungsindustrie, mit deutlichem Abstand folgten die Bereiche Büroarbeit und Handel. Eine für akademisch gebildete Frauen naheliegende Berufsgruppe war dagegen nur schwach vertreten: die Lehrkräfte.32 Dieser Umstand passt jedoch ins Bild, denn auffällig im Beamtenbezirk Wieden war allgemein der geringe Anteil öffentlich Bediensteter unter der hoch qualifizierten jüdischen Bevölkerung. Hier lässt sich ein deutlicher Hinweis auf die strukturelle Benachteiligung erkennen, der sich Jüdinnen und Juden auch nach mehr als 50 Jahren formaler Gleichberechtigung noch ausgesetzt sahen.

 

FLORIAN WENNINGER

  1. 1) Vgl. Evelyn Adunka, Die vierte Gemeinde. Die Geschichte der Wiener Juden von 1945 bis heute, Wien–Berlin 2000, 18.
  2. 2) der vorliegende Text profitiert in vielfältiger Weise von den Forschungs- und Rechercheergebnissen von Matthias Kamleitner. Ihm möchte ich an dieser Stelle danken.
  3. 3) Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, 17.
  4. 4) Vgl. Bundesamt für Statistik (Hg.), Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, Bundesland Wien, Wien 1935, 2f.
  5. 5) Vgl. http://www.ikg-wien.at/?page_id=15377 (abgerufen am 7. 5. 2015).
  6. 6) Vgl. Bundesamt für Statistik , Ergebnisse, 2f.
  7. 7) Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Band 1, Frankfurt am Main 1993, 70f.
  8. 8) Vgl. Gerhard Botz, Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung. Das Ende des Wiener Judentums unter der nationalsozialistischen Herrschaft (1938–1945), in: ders./Oxaal/Pollak/Scholz, Kultur, 315–339, 317. Siehe auch Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, 16f.
  9. 9) So konzentrierten sich etwa im heutigen 15. Bezirk jüdische Institutionen, Geschäfte und Vereine auf wenige Straßenzüge, vgl. Michael Kofler/Judith Pühringer/ Georg Traska (Hg.), Das Dreieck meiner Kindheit. Eine jüdische Vorstadtgemeinde in Wien, Wien 2008.

  10. 10) Freilich differierten die entsprechenden Samples teils erheblich, so konnte bei wesentlich weniger Menschen ihr Geburtsort eruiert werden als ihr Geschlecht oder ihr Alter. In den folgenden Fußnoten werden daher die jeweiligen Samplegrößen mit „N“ angegeben.
  11. 11) N=3008.
  12. 12) Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Ergebnisse, 29.
  13. 13) vgl. Goldhammer, Juden, 25f.
  14. 14) Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Ergebnisse, 2f; 6f (jeweils aus absoluten Zahlen berechnet)
  15. 15) Vgl. Stadt Wien, Bereichsleitung für Gesundheitsplanung und Finanzmanagement (Hg.), Lebenserwartung und Mortalität in Wien, Wien 2003, 72ff. Im Schnitt sterben BewohnerInnen des 15. Bezirks heute mehr als drei Jahre früher als diejenigen des ersten Bezirks.
  16. 16) Vgl. Goldhammer, Juden, 26.
  17. 17) Vgl. Bundesamt für Statistik, Ergebnisse, 6f.
  18. 18) Diese Vermutung wird durch den Umstand bestätigt, dass jene Personen, die sich im September 1939 noch in Wien befanden und keinen Auswanderungsbogen ausgefüllt hatten, im Schnitt eine deutliche Überalterung aufwiesen, vgl. „Verzeichnis der in Wien lebenden Juden nach dem Stand vom 15. 9. 1939“. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 398,12.
  19. 19) Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Ergebnisse, 161 (berechnet).
  20. 20) Vgl. Goldhammer, Juden, 11.
  21. 21) Von 53.000 WiednerInnen des Jahres 1934 waren insgesamt 8.161 in der späteren ČSSR geboren worden, vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Ergebnisse, 15
  22. 22) N=2101. Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1934, Ergebnisse, 15 (aus absoluten Zahlen berechnet)
  23. 23) N=263; Die Daten basieren ausschließlich auf den Haushaltsvorständen im Archiv der IKG Wien, Bestand „Auswanderungsfragebögen“.
  24. 24) Vgl. Beatrix Hoffmann-Holter, Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Heiss, Gernot/Rathkolb, Oliver (Hg.), Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, 45–59. Siehe ebd. auch den Beitrag von Margarete Grandner, Staatsbürger und Ausländer. Zum Umgang Österreichs mit den jüdischen Flüchtlingen nach 1918, 60–79.
  25. 25) Vgl. Goldhammer, Juden, 37f.
  26. 26) Die Daten basieren ausschließlich auf den Angaben in den „Auswanderungsfragebögen“, N=570.
  27. 27) N=447.
  28. 28) N=123
  29. 29) Vgl. Waltraud Heindl/Marina Tichy, Einleitung. Fragen, Methoden und Quellen, in: Dies. (Hg.), „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück…“. Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990, 9–15, 9.
  30. 30) Zum jüdischen Frauenleben in Wien vgl. Michaela Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West. Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien, Innsbruck–Wien–Bozen 2008.
  31. 31) N=563; Aussagen zur Berufsgliederung orientieren sich an den Kategorien der Volkszählung von 1934 (vgl. Bundesamt für Statistik, Ergebnisse, 18ff)
  32. 32)   N=619

Jüdische Wieden vor 1938