Flucht – aber wohin?

Titelblatt der Kronen Zeitung vom 16. November 1938

Schlagzeile der Kronen Zeitung vom 16. November 1938

Jüdinnen und Juden, die sich einmal zur Flucht entschlossen hatten, wandten sich meist an die Israelitische Kultusgemeinde. Diese erhob nicht nur Daten und prüfte allgemeine Eignungen, sondern fragte auch nach den bevorzugten Zielen der Flucht. Welcher Ort auch immer im entsprechenden Fragekatalog angegeben wurde,1 bedeutete freilich nur in den seltensten Fällen, dass diese Wünsche auch tatsächlich erfüllt werden konnten.2

Vielmehr waren die Lebensbedingungen in Wien derart unerträglich und beängstigend, dass es eine durchgängige Bereitschaft gab, mehr oder minder jede Destination zu akzeptieren, sofern damit eine möglichst rasche Ausreise erzielt werden konnte. Nicht selten wurden auf die Frage „Wohin wollen Sie auswandern?“ bis zu zehn Staaten oder mehr genannt. Die 1905 geborene Riwka Feld aus der Favoritenstraße formulierte sichtlich verzweifelt ihr Fluchtziel so: „Land egal, nur fort von hier“.3

 

Mehr als ein Drittel der österreichischen Jüdinnen und Juden fand in anderen europäischen Ländern Zuflucht, darunter mehr als die Hälfte in Großbritannien. Weitere europäische Emigrationsländer waren die Schweiz, Frankreich, bis zu ihrer eigenen Besetzung 1939 die Tschechoslowakei, die Beneluxstaaten und Italien. Fluchten in osteuropäische Staaten kamen hingegen vergleichsweise selten vor, besonders wegen des dort ebenfalls grassierenden Antisemitismus und diverser Einreiseerschwernisse. Ausnahmen bildeten die Tschechoslowakei und Ungarn, wo es große jüdische Gemeinden gab und wohin zahlreiche Verfolgte verwandtschaftliche Beziehungen hatten.

Die wichtigsten Zielländer außerhalb Europas waren die USA und Palästina. Nicht wenige Betroffene flüchteten zudem in verschiedene Staaten Lateinamerikas – allen voran nach Argentinien 4 und Bolivien – sowie nach China und Australien.5

Die Sowjetunion war als Fluchtland ursprünglich vor allem für diejenigen eine Option gewesen, die sich im Umfeld der Kommunistischen Partei bewegt hatten.6 Dies änderte sich nach Kriegsbeginn, als auch eine unbekannte Anzahl von NichtkommunistInnen in den Einflussbereich der Sowjetunion geriet: Einerseits betraf das diejenigen, die 1938/39 nach Ostpolen und ins Baltikum geflüchtet waren – in Gebiete also, die nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zwischen 1939 und 1941 sowjetisch besetzt waren. Andererseits gehörten dazu aber auch die im Herbst 1939 zu Tausenden von Wien nach Nisko deportierten Menschen.

Aus dem von den Deutschen besetzten Gebiet flohen mehrere der Angekommenen in die Sowjetunion, andere wurden von der SS über die Grenze getrieben und fanden hier Aufnahme.

Etliche Flüchtlinge gerieten in der Sowjetunion allerdings ins Visier von Stalins Geheimpolizei, die sie verdächtigte, deutsche Spione zu sein. Die Betroffenen wurden inhaftiert, in sibirischen Lagern wie Karaganda interniert oder gar exekutiert.7

 

 

Auch für die jüdischen BewohnerInnen der Wieden zählten insbesondere Großbritannien, die USA, Frankreich und China zu den wichtigsten Aufnahmeländern. Einige fanden zunächst in Nachbarländern wie der Tschechoslowakei und Jugoslawien Asyl, wurden dort jedoch vielfach von der NS-Verfolgungsmaschinerie eingeholt, als die Wehrmacht diese Länder besetzte. Mehrere WiednerInnen entkamen zudem in die Beneluxstaaten, nach Australien, Palästina und in verschiedene Ländern Lateinamerikas.

Fast immer brachte die Flucht einen sozialen Abstieg mit sich. Einerseits war in vielen Staaten der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge eingeschränkt, andererseits wurden in Österreich erworbene Qualifikationen in den Aufnahmeländern zumeist nicht anerkannt. Angesichts der großen Zahl an Menschen konnten auch die diversen Hilfsorganisationen die prekäre wirtschaftliche Situation der Flüchtlinge nur geringfügig mildern. Mit dem Kriegsbeginn im September 1939 wurde die Lage der Flüchtlinge noch schwieriger, weil ihnen sowohl seitens der Behörden als auch der Bevölkerung aufgrund ihrer deutschen Herkunft massives Misstrauen entgegenschlug. Dies führte in mehreren Fällen auch zu einer rechtlichen Schlechterstellung, in Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder der Schweiz zeitweise sogar zur Internierung als „feindliche AusländerInnen“.8

MATTHIAS KAMLEITNER

  1. 1) Vgl. Auswanderungsfragebögen, 1938–1940. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589 (numerisch) sowie A/W 2590 (alphabetisch).
  2. 2) Vgl. Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938–1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817–849, 818.
  3. 3) Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589, 61, AFB-Nr. 24101 (Riwka Feld).
  4. 4) Mit der Flucht von österreichischen Jüdinnen und Juden nach Argentinien hat sich ausführlich Philipp Mettauer befasst. Vgl. Mettauer, Erzwungene Emigration nach Argentinien. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten, Münster 2010
  5. 5) Vgl. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938-1945, Wien 1999, 65-71.
  6. 6) Vgl. Barry McLoughlin/Hans Schafranek, Österreicher im Exil. Sowjetunion 1934-1945. Eine Dokumentation, Wien 1999, 12
  7. 7) Vgl. Barry McLoughlin/Josef Vogl, „… ein Paragraf wird sich finden.“ Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945), Wien 2013.
  8. 8) Vgl. Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938–1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817–849, 819.

Flucht & Vertreibung