Flucht von Kindern

Auf sich alleine gestellt: Jüdische Kinder aus Wien bei ihrer Ankunft auf dem Londoner Liverpool Street Bahnhof, 13. Juli 1939 (Foto: ÖNB S 52/10)

Bereits seit April 1934 war es jüdischen Kindern im Deutschen Reich untersagt gewesen, eine mittlere oder höhere Schule zu besuchen. 1 Die Ausgrenzungsmaßnahmen, die sich im Deutschen Reich über Jahre hin entwickelt hatten, wurden in Österreich binnen kürzester Zeit nachgeholt.2 Bald nach dem „Anschluss“ wurden mit Ende April 1938 auch in Wien auf Weisung des Stadtschulrates jüdische SchülerInnen aus Pflicht- und Mittelschulen verbannt und in separaten Schulen konzentriert, wo sie ausschließlich von jüdischen LehrerInnen unterrichtet werden sollten.3 Nach den Novemberpogromen, während derer auch Schulgebäude Brandanschlägen zum Opfer fielen, wurde jüdischen Kindern auf Erlass des Reichserziehungsministers der Besuch öffentlicher Schulen gänzlich untersagt. 4 In Wien gelang es der Israelitischen Kultusgemeinde allerdings – toleriert durch die nationalsozialistischen Machthaber – die Kinder in Schulen und Kursen durch jüdische LehrerInnen, die an staatlichen Schulen entlassen worden waren, weiterhin auszubilden. Dabei wurden diese, so Historiker Doron Rabinovici, „zur ‚Alija‘, der Einwanderung nach Palästina, ausgebildet.“5

In der Schule für wirtschaftliche Frauenberufe des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins im vierten Bezirk am Wiedner Gürtel wurden zwei „nichtarische“ Lehrerinnen, Hedwig Schmidl und Gerda Kautzky, gekündigt. Zuvor hatten bereits im März 1938 sechs Schülerinnen die Schule „aus rassischen Gründen“ verlassen müssen. Weitere acht – unter ihnen die später im August 1942 in Maly Trostinec ermordete Lizzi Neumann6 aus der Petzvalgasse – folgten im Juli 1938.7

Auch in der Ressel-Realschule in der Waltergasse kam es zu Ausschlüssen. Mit 28. April 1938 wurde es 40 männlichen Schülern (darunter 27 von der Wieden) untersagt, weiterhin den Unterricht zu besuchen. Außerdem mussten auch hier vier jüdische Lehrer die Schule verlassen.8

Zu den Schülern gehörte auch der 1921 geborene Hans Altmann aus der Radeckgasse. 9 Nachdem diesem zunächst die Ausreise in die Tschechoslowakei gelungen war, wurde er im März 1942 aus Brünn nach Theresienstadt sowie wenige Tage später weiter nach Polen ins Ghetto Piaski deportiert. Altmann überlebte nicht, die genauen Umstände seiner Ermordung sind nicht bekannt.10 Anders erging es dem 1926 geborenen Alexander Katz, dem die Flucht nach Palästina gelang und der bis zu seinem Tod im Jahr 2010 in Israel lebte. 11

Die wenigen für jüdische SchülerInnen vorgesehenen Schulen wurden auf Befehl der Gauleitung nun insbesondere dort eingerichtet, wo bereits vor 1938 ein hoher prozentueller Anteil an jüdischen SchülerInnen vorhanden gewesen war. Beispiele sind die Volks- und Hauptschule in der Pazmanitengasse 17 im zweiten Bezirk oder auch die Hauptschule für Knaben und Mädchen in der Stumpergasse 56 im sechsten Bezirk. Hier mussten sich bis zu 80 Kinder und Jugendliche ein Klassenzimmer teilen, was dazu führte, dass oft nicht einmal ausreichend Bänke zur Verfügung standen und die Kinder stehen oder am Boden sitzen mussten.12

Abgesehen vom Schulleben waren Kinder wie Erwachsene auch von praktisch sämtlichen gesellschaftlichen Freizeitaktivitäten ausgeschlossen. Parks und Schwimmbäder durften ebensowenig betreten werden wie Kinos, Museen, Theater oder Konzertstätten. 13 Ab November 1938 war es Jüdinnen und Juden zudem verboten, öffentliche Bibliotheken zu benützen,14 ab August 1941 galt dies auch für private Leihbibliotheken. Auch der Bewegungsradius der Betroffenen erfuhr eine massive Einschränkung, weil ihnen das Verwenden von öffentlichen Verkehrsmitteln weitgehend untersagt wurde.15 Ohnehin war der Aufenthalt im öffentlichen Raum mit dauernden Anfeindungen, nicht selten mit körperlichen Übergriffen verbunden. Die meisten Menschen jeden Alters versuchten daher, ihre Wohnungen so wenig wie möglich zu verlassen.

Gesellschaftliche Ausgrenzungen, alltägliche Diffamierungen, permanente Gefahren und die damit verbundenen Sorgen der Eltern, nicht selten die Verhaftung des Vaters, der Verlust von FreundInnen, die mit ihren Angehörigen flüchteten, später deportiert wurden, oder sich – wenn sie „arisch“ waren – abwandten, ließen die bisher „normalen“ Kinderwelten zusammenbrechen. 16

Der zu diesem Zeitpunkt zwölfjährige Erwin Rennert hielt dazu später in seinen Lebenserinnerungen fest: „‚Der Vater‘ und ‚die Mutter‘ treten wieder auf, aber sind auch in einer anderen Verfassung. Sie schlafen nicht genug, träumen vielleicht schlecht. Ich habe öfter Albträume. Ich bin also nun ein anderer. Wie soll ich mich unverändert geben, wenn ich nicht einmal auf einer Parkbank sitzen darf?“ 17

 

Kindertransporte

Die Ausschreitungen der Novemberpogrome im Deutschen Reich führten in der britischen Öffentlichkeit und besonders seitens jüdischer Gemeinden zu stürmischen Appellen, die Grenzen für die Verfolgten wieder zu öffnen. Trotz ihrer generell sehr restriktiven Flüchtlingspolitik rang sich die britische Regierung unter Neville Chamberlain zu einem Entgegenkommen durch und gestattete die temporäre Aufnahme von jüdischen Kindern und Jugendlichen. Für den Zeitraum ihres Aufenthaltes sollten diese zunächst in Sammellagern, später bei Pflegefamilien untergebracht werden und außerdem eine Ausbildung erhalten. Diese sollte sie auf ein neues Leben in einem anderen Land vorbereiten, in das sie später mit ihren Eltern weiterreisen würden.18

Bereits zuvor hatte Großbritannien mit der „Dienstbotenemigration“ zur Rettung von zumeist weiblichen 20.000 jungen Jüdinnen und Juden beigetragen. Diese kamen als HausgehilfInnen bei britischen Familien unter und stammten zu etwa einem Drittel aus Österreich.19

Zur Organisation und Durchführung der Kindertransporte wurde die überkonfessionelle Flüchtlingsorganisation Refugee Childrens‘ Movement (RCM) gegründet, die mit jüdischen Hilfsorganisationen im Deutschen Reich kooperierte. 20 Zuständig in Wien waren die Israelitische Kultusgemeinde, das Palästinaamt der Jewish Agency for Palestine, sowie für konfessionslose Kinder die Aktion Gildemeester. 21 Neben der enormen emotionalen Belastung für Kinder und Eltern war die Vorbereitung auf die Ausreise auch mit einem bürokratischen Spießrutenlauf verbunden, der später auch die Erstellung eines psychologischen Gutachtens des Kindes umfasste. 22

Großbritannien selbst leistete keinerlei staatliche Subventionierung der Kindertransporte, weshalb die damit verbundenen Kosten einzig aus den Mitteln der RCM abgedeckt werden mussten. Diese hatte auch die Aufgabe, Privatpersonen zu finden, welche die geflüchteten Kinder und Jugendlichen kostenlos bei sich aufnahmen und verpflegten. 23

Der erste Transport aus dem Deutschen Reich fuhr am 1. Dezember 1938 von Berlin ab;24 neun Tage darauf folgten 470 Kinder aus Wien, von denen 401 für England und 69 für die Niederlande bestimmt waren, wo ein ähnliches Programm lanciert worden war. 25

Insgesamt konnten durch die britischen Kindertransporte bis zum Kriegsbeginn im Herbst 1939 etwa 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 17 Jahren gerettet werden. 26

Unter den Kindern, die auf diese Weise gerettet wurden, befand sich das bei seinen Verwandten in der Belvederegasse aufgewachsene Waisenkind Erika W.27 Im März 1939 gelangte sie im Alter von neun Jahren mit einem Kindertransport nach England. 28 Erika W. überlebte als einziges Mitglied ihrer Verwandtschaft, die in der Belvederegasse zusammengelebt hatte, den Zweiten Weltkrieg. Alle anderen – sowohl ihre Großeltern Simon und Gisela Kirschenbaum als auch ihr Onkel Leopold (ihm gelang zunächst die Flucht nach Belgien) und ihre Tanten Gertrude und Eleonore Kirschenbaum – wurden deportiert und ermordet.29 Damit ging es Erika W. wie den weitaus meisten Kindern, die auf ein baldiges Wiedersehen hofften, ihre Angehörigen am Westbahnhof jedoch zum letzten Mal sahen.

 

Die österreichische Exilpresse über eines der Auffanglager für geflüchtete Kinder in Großbritannien

„Mit verhangenen Fenstern fuhr der Zug durch das Land. […] Es war ein Abschied für lange, für immer vielleicht. Werden sie wiederkommen?! Wann? Als alte Leute? Oder erst ihre Kinder? Die Eltern durften nicht mit bis zum Zug. Der Bahnsteig war abgeriegelt. Hier war die Heimat, die geliebte, für diese Kinder verloren. Hinter der Sperre standen die Mütter und hatten hilflose Gesichter. […] Es sind Kinder. Sie können weinen, weil sie Heimweh haben, drei, vier, fünf und mehr Tage können sie weinen, aber sie können lachen, wenn sie ein Fussballmatch sehen, und sie können das Heimweh vergessen, wenn sie zum ersten Mal die Salzluft des Meeres riechen. Es ist das grosse Glück und ein Wunder, dass die Kinder vergessen können. […] In Holland wurden die Gardinen des Kinderzuges zurückgezogen. Holländische Kinder kamen an die Bahn, mit Guirlanden [sic!], Milchkaffee, Kuchen und Butterbroten. ‚So viel brachten sie mit‘, sagte ein kleines Mädchen, ‚dass wir es gar nicht aufessen konnten.‘ […] Dovercourt ist das grösste Kindercamp, unmittelbar in der Nähe von Harwich. Man geht an einer langen Reihe von kleinen Chalets vorüber, die wie Schlafwagenabteile aussehen. In jedem ‚Coupé‘ sind ein bis zwei Betten, ein Waschtisch mit fliessendem Wasser und ein Kasten. Jeder Block hat ein bis zwei Bäder. […] Jeden Morgen kommt der gefürchtete immigration-officer von Harwich und gibt englischen Unterricht. Die Kinder verstehen noch nicht, dass der immigration-officer eine der bedeutendsten Persönlichkeiten geworden ist, dass es von seinem Stempel, um den viele zittern, abhängt, ob einer in England landen darf oder nicht. […] Die Kinder, die England grosszuegig aufgenommen hat, sind zwischen 5 und 18 Jahren. Aber den Engländern gefallen diese Kinder so gut, dass in mehreren Fällen schon die Gastgeber Garantien für die Eltern der Kinder geben und sich bemühen, den Vater und die Mutter nachkommen zu lassen. So bereiten, vielleicht das erste Mal in der Geschichte, die Kinder den Eltern den Weg. Die Engländer haben sich verpflichtet, die Kinder bis zum achtzehnten Jahr zu versorgen und ihnen die Möglichkeit einer Berufsausübung zu verschaffen. […] Sie wachsen hier auf und sie wachsen sich ein, und in ein paar Jahren werden sie besser Englisch sprechen als Deutsch bestimmt, die Kleinen. Und wenn sie dann einmal nach Hause fahren – o nein, es wird nicht in grauen Zeiten sein – so werden die Fenster der Züge nicht mehr verhangen sein, und sie dürfen mit offenen Augen auf die Farben ihres Landes schauen, aus dem sie vertrieben wurden, als sie Kinder waren, und sie werden sagen können, dass sie trotz allem eine glückliche Jugend gehabt haben.“30

 

Neben Großbritannien, dem Haupteinwanderungsziel für Kinder und Jugendliche, nahmen in geringerer Zahl noch weitere Länder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf. Zu diesen zählten die Niederlande, Belgien, Frankreich, die Schweiz und Schweden. Eine ursprünglich am Beispiel Großbritanniens geplante Kinderaufnahmeaktion der USA kam wegen des Widerstandes immigrationsfeindlicher Kreise nicht zustande.31

Neben der organisierten Auswanderung von Kindern bemühten sich Eltern aber auch darum, ihre Kinder individuell bei Bekannten und Verwandten in sicheren Ländern wie den USA unterzubringen. 32 Wie vielen dieser Versuche Erfolg beschieden war, ist nicht bekannt.

Im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien finden sich diverse Listen und Korrespondenzen zur Auswanderung minderjähriger Wiener Flüchtlinge. Zu den Zielländern gehörten neben den bereits genannten auch Frankreich, Belgien, die USA, Australien und Südafrika.33 Aufgrund des erzwungenen Umzuges in andere Wiener Bezirke, vor allem die Leopoldstadt, kann der ursprüngliche Wohnbezirk oft nicht mehr nachvollzogen werden. Dennoch finden sich in den Dokumenten zumindest 90 Kinder und Jugendliche aus dem vierten Wiener Gemeindebezirk. Aus den vorhandenen Quellen ist zwar ersichtlich, dass sie bzw. ihre Eltern sich um eine Ausreise bemühten – wie viele von ihnen schlussendlich auch wirklich flüchten konnten, ist jedoch unklar. Mehr als die Hälfte der Antragstellungen betrafen männliche Kinder und Jugendliche. Über 60 Personen versuchten, nach Großbritannien zu entkommen, einige wenige aber auch in die USA, in einen der Beneluxstaaten, nach Australien oder Schweden.

 

Erwin Rennert mit seiner Frau Ruth

Erwin Rennert mit seiner Frau Ruth auf der Überfahrt nach New York, 1947. (Privatarchiv Rennert)

Zum Beispiel: Familie Rennert

Ursprünglich war auch der im Jahr 1938 zwölfjährige Erwin Rennert gemeinsam mit seiner 15-jährigen Schwester Silvia für einen Kindertransport nach England vorgesehen gewesen.34 Die Eltern Pinkas und Lea Rennert entschieden sich letztendlich aber dafür, ihre Kinder Verwandten in New York City anzuvertrauen. 35

Eigentlich hatte die Familie Rennert in der Heumühlgasse gewohnt,36 im Herbst 1938 aber musste sie in die im dritten Bezirk gelegene Löwengasse umziehen. 37 Ein Jahr später, am 31. 10. 1939, fuhren Erwin und Silvia Rennert schließlich in Begleitung des – den beiden bis dahin unbekannten – Herrn Weissmann, der mit seinen zwei Kindern ebenfalls flüchtete, vom Wiener Südbahnhof per Zug nach Triest, von wo aus sie weiter per Schiff in die USA reisten. 38

60 Jahre später erinnerte sich Erwin Rennert an den Abschied von den Eltern: „Auf welchem Gleis steht der Zug? Mein Vater und ich finden den Waggon, unser Coupé, dazu den unbekannten, aber freundlichen Herrn Weissmann, den meine Mutter anschaut, als wäre er ein Schutzengel. Die Plattform ist spärlich beleuchtet. Ich sehe aber ihre Tränen, und wie sie sich in die Lippen beißt. Mein Vater hilft uns noch, die Koffer zu verstauen. […] Auch meine Mutter betritt noch kurz das Abteil, betrachtet unsere Sitze, so als wollte sie sehen, wie sich unsere Zukunft gestalten wird. Eine letzte Umarmung, sie streicht mir noch über das Haar, küsst mich, dann muß sie aussteigen. Jetzt fährt der Zug langsam ab. Silvia und ich beugen uns aus dem Fenster, um den Eltern zuzuwinken. Ich sehe noch das blasse und verweinte Gesicht meiner Mutter, und wie der Vater sie am Arm hält. Beide winken, dann sind sie verschwunden.“39 Erwin und Silvia Rennert sahen ihre Eltern nicht mehr wieder. Am 5. 10. 1942 wurden Pinkas und Lea Rennert von Wien ins Vernichtungslager Maly Trostinec deportiert und vier Tage darauf ermordet. 40

Im März 1945 gelangte Erwin Rennert als Soldat der US-Army nach Europa, Ende 1945 kehrte er während eines Sonderurlaubs erstmals zurück ins nunmehr zerbombte Wien. Während seiner Stationierung in Deutschland lernte er seine zukünftige Frau Ruth kennen, mit der er 1947 auf Befehl der US-Armee wieder in die USA zurückkehrte. 41

1961 kam Erwin Rennert mit seiner Familie – mittlerweile war er Vater von fünf Kindern – für den Rest seines Lebens zurück in die Stadt seiner Kindheit,42 wo er 2009 im Alter von 83 Jahren verstarb.43 Zwei Jahre später verstarb seine weiterhin in den USA verbliebene Schwester als verheiratete Silvia Rivera in New York.