Flüchtlinge von der Wieden – einige soziologische Anmerkungen

Grafik1: Geflüchtete Personen nach Geschlecht (N=662).

Auf Basis umfangreicher Archiv- und Onlinerecherchen1 konnten die Fluchtrouten von mehr als 600 verfolgten Wiednerinnen und Wiednern ganz oder teilweise rekonstruiert werden. Die bis heute im Archiv der IKG Wien erhaltenen „Auswanderungsfragebögen“,2 die die Fluchtwilligen ausfüllen mussten, beinhalten oftmals konkrete Hinweise auf Auswanderungsländer (etwa Visa und Schiffsfahrkarten)3 und dienten als eine wesentliche Informationsquelle zur Rekonstruktion der individuellen Fluchtrouten.

Obgleich im Einzelfall vielfach keine absolute Gewissheit darüber besteht, ob die jeweilige Person ihre Reise tatsächlich antrat bzw. ihr Ziel auch wirklich erreichte, gelang es in Summe doch, sich ein ungefähres Bild von der verzweifelten Lage der Betroffenen zu machen.

 

Der soziale Hintergrund der Wiedner Flüchtlinge

Während sich unter den später ermordeten WiednerInnen überproportional viele Frauen befanden, war die Mehrheit der Flüchtlinge mit 56 % männlich 4

Die meisten der geflüchteten Männer und Frauen waren zwischen 15 und 50 Jahre alt. Der Altersdurchschnitt lag mit rund 36,2 Jahren deutlich unter dem der Gesamtheit der namentlich bekannten Wiedner Verfolgten, die im Mittel 43,9 Jahre alt waren. Die geringsten Aussichten auf eine erfolgreiche Flucht hatten Frauen ab einem Alter von 55 Jahren, sowie Kinder unter fünf Jahren. 5

Der vergleichsweise niedrige Altersdurchschnitt der geflüchteten WiednerInnen ist auch Ausdruck eines erhöhten Anteils an SchülerInnen und Studierenden sowie umgekehrt eines verschwindend geringen Anteil an Pensionistinnen und Pensionisten.

Gering war überdies die Zahl der Beamtinnen und Beamten unter den Flüchtlingen von der Wieden. Der auffälligste Unterschied zur Gesamtheit der Wiener Jüdinnen und Juden aber war, dass deutlich weniger Hausfrauen unter den Geflüchteten waren als das ihrem Gesamtanteil an der jüdischen Bevölkerung entsprach. Umgekehrt gelang berufstätigen Frauen überproportional oft die Flucht.

MATTHIAS KAMLEITNER

 

  1. 1) Recherchiert wurde insbesondere im Archiv der IKG Wien aber auch im WStLA. Online in den Datenbanken des DÖW und von Yad Vashem, im Gedenkbuch der Universität Wien sowie in der Austrian Heritage Collection des Leo Baeck Instituts in New York.
  2. 2) Vgl. Auswanderungsfragebögen, 1938–1940. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2589 (numerisch) sowie A/W 2590 (alphabetisch). Die Originale befinden sich in den CAHJP in Jerusalem.
  3. 3) Vgl. Susanne Uslu-Pauer, The Archive of the Jewish Community in Vienna. Lecture at the Holocaust Era Assets Conference, Prague, 2009.
  4. 4) N=662
  5. 5) N=226+301

Flucht & Vertreibung