Die Israelitische Kultusgemeinde Wien als Anlaufstelle für Flüchtlinge

Fluchtwillige stehen für Papiere vor dem Polizeikommissariat in der Wehrgasse an, März 1938. (Foto: 10 ÖNB, H5175/4)

Das organisatorische Zentrum der Fluchtbewegungen war in Wien die Israelitische Kultusgemeinde (IKG Wien). Diese unterstand nach ihrer Schließung am 18. März 1938 und Wiedereröffnung im Mai 1938 nunmehr den NS-Behörden – ab Sommer 1938 insbesondere der neu eingerichteten Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Unter deren Druck stimmte die IKG Wien zu, bis Mai 1939 für die Auswanderung von 20.000 aufgrund der Verfolgung in die Armut getriebenen Jüdinnen und Juden zu sorgen.1

Auch unabhängig von den Befehlen des Leiters der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, Adolf Eichmann, setzte sich in der IKG Wien, deren führende Funktionäre bereits kurz nach dem „Anschluss“ eingesperrt oder in Konzentrationslager deportiert worden waren, bald die Ansicht durch, dass die möglichst rasche Flucht ins Ausland die einzige Perspektive war, die der jüdischen Bevölkerung blieb, selbst wenn damit die Zurücklassung eines Großteils des Hab und Guts verbunden war. Mit dem Ziel, möglichst viele Menschen zu retten, forcierte die IKG Wien daher auch aus eigenen Interessen die Organisation von Fluchtmöglichkeiten.2

Jüdinnen und Juden, die sich entschlossen hatten, das Land zu verlassen, mussten neben der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung und der IKG Wien zahlreiche weitere Behörden und Organisationen aufsuchen: Dazu zählten unter anderem das Finanzamt und die Bezirkshauptmannschaft (im Falle Wiens der Magistrat), bei denen Steuern und Gebühren zu bezahlen waren, weiters der Amtsarzt und das mit besonders langen Wartezeiten und bürokratischer Willkür verbundene Passamt in der Wehrgasse im fünften Bezirk.3

Die wichtigsten und zugleich größten Hürden waren aber eine individuell ausgestellte Einreiseerlaubnis für einen fremden Staat sowie das Aufbringen der notwendigen Geldmittel für die Auswanderung, einschließlich der Reisekosten in das jeweilige Zielland. Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden war keineswegs wohlhabend. Um ihnen eine Ausreise zu ermöglichen, riefen jüdische Bankiers und Industrielle die Aktion Gildemeester ins Leben.4 Deren Grundgedanke war, durch Zahlungen von bessergestellten die Flucht von mittellosen Jüdinnen und Juden zu ermöglichen. Die Aktion Gildemeester diente in erster Linie als Anlaufstelle für konfessionslose Personen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden, und wurde in späterer Folge ebenfalls in die Zentralstelle eingegliedert.5

In Zusammenarbeit mit der Aktion Gildemeester, dem Palästinaamt 6, zionistischen Institutionen und Hilfsorganisationen wie jener der Quäker organisierte die IKG Wien ab 1938 Reisedokumente, Einreise- und Transitvisa, Schiffsfahrkarten sowie Bescheinigungen der Arbeitserlaubnis in potentiellen Aufnahmeländern.7 Binnen kürzester Zeit wandten sich Zehntausende verzweifelte Menschen an die Kultusgemeinde und baten um Hilfe bei der Flucht. Die wenigsten von ihnen zweifelten daran, dass es eine Frage von Leben und Tod war, rechtzeitig aus dem Land zu kommen.8

 

Matthias Kamleitner

  1. 1) Vgl. Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945, der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main 2000, 102.
  2. 2) Vgl. Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945, der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main 2000, 102.
  3. 3) Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 35
  4. 4) Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution, Wien 2004, 127-128.
  5. 5) Gabriele Anderl/Dirk Rupnow, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution, Wien 2004, 183-184; Theodor Venus/Alexandra-Eileen Wenck, Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester (Veröffentlichung der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 20/2), Wien-München 2004, 52-53.
  6. 6) Das Palästinaamt war die offizielle Vertretung der zionistischen Organisation Jewih Agency for Palestine im britischen Mandatsgebiet Palästina.
  7. 7) Vgl. Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938–1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817–849, 817.
  8. 8) Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt/Main 1997, 39.

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