Fluchtland: China

Fluchtland-China_Yad-Vashem

Das Ghetto in Shanghai im Sommer 1945. (Foto: Foto 19 Yad Vashem, 4648/43)

Unter dem Eindruck der sich stetig verschlimmernden Situation entschlossen sich mehrere WiednerInnen zur Auswanderung nach China. Sie alle hatten dabei dasselbe Ziel: die Stadt Shanghai. Im Vergleich zu vielen anderen Destinationen war die Reise, meist per Schiff von italienischen und französischen Mittelmeerhäfen aus, sehr kostspielig. Dennoch zog Shanghai viele Flüchtlinge aus dem fernen Europa an, weil für eine Einreise in die chinesische Handels- und Finanzmetropole kein Visum notwendig war. Für viele Menschen war Shanghai daher schlicht die letzte Fluchtmöglichkeit, die ihnen offen stand.1

Nach der chinesischen Niederlage im ersten Opiumkrieg 1842 hatten Großbritannien, Frankreich, die USA und Japan innerhalb der Stadt Shanghai die Einrichtung von drei international verwalteten autonomen Gebieten erzwungen. Daraus entwickelten sich das unter britischem und US-amerikanischem Einfluss stehende International Settlement, das französisch dominierte French Concession und eine japanische Verwaltungszone namens Hongkou. In den genannten Gebieten galt nicht das chinesische Recht, sie fielen überdies in die Zuständigkeit ausländischer Gerichte. Beides verschaffte den Kolonialmächten erhebliche Vorteile im Handel und bei Vertragsstreitigkeiten.

Im Rahmen des Chinesisch-Japanischen Kriegs besetzten im Februar 1938 japanische Truppen die Stadt. Obwohl das Kaiserreich Japan ein Verbündeter des Deutschen Reiches war, respektierten die japanischen Besatzer zunächst die internationalen Zonen in Shanghai und ließen die EinwohnerInnen weitgehend unbehelligt. Das galt anfangs auch für die jüdischen Flüchtlinge aus Europa, die weiterhin Aufnahme fanden. Ab August 1939 war es damit jedoch vorbei. Die japanische Verwaltung untersagte – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Jüdinnen und Juden die Einreise. 2 Infolge des Überfalls auf Pearl Harbor wurden im Dezember 1941 auch die bisher autonomen westlichen Stadtteile Shanghais von japanischen Truppen besetzt. Trotz mehrerer deutscher Interventionen dauerte es bis Mitte Februar 1943, als Japan dem deutschen Druck nachgab und sämtliche Shanghai-Flüchtlinge in ein kleines Ghetto im Stadtteil Hongkou umsiedelte. Die Lebensbedingungen der etwa 20.000 GhettobewohnerInnen waren erbärmlich: Es fehlte an hygienischen Einrichtungen, unter den auf engstem Raum zusammengedrängten Menschen breiteten sich daher rasch Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera und Scharlach aus und forderten in Verbindung mit der chronischen Unterernährung zahlreiche Menschenleben. Aufgrund der sprachlichen Barrieren und der ohnehin hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt gelang es den meisten Geflüchteten nicht, in Shanghai ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Sie waren daher auf die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen angewiesen, die nach Beginn des Kriegs mit den USA jedoch zum Erliegen kam. 3 Trotz dieser Umstände waren die Menschen hier vergleichsweise sicher: Dem Wunsch des Deutschen Reichs an den japanischen Bündnispartner, die Flüchtlinge in Shanghai auszuliefern oder zu töten, kam jener nicht nach.

 

Zum Beispiel: Familie Tausig

Otto Tausig mit seiner späteren Frau Hansi um 1942 in London. (Foto: Mandelbaum Verlag/Otto Tausig: Kasperl, Kummerl, Jud)

Im März 1938 war der spätere Burgschauspieler Otto Tausig ein 16-jähriger Gymnasiast und lebte mit seinen Eltern in der Favoritenstraße.4 Bereits wenige Wochen nach dem „Anschluss“ wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Schule verwiesen.5 Während der Novemberpogrome verhaftete die Gestapo Otto Tausigs Vater, den Rechtsanwalt und Kaufmann Aladar Tausig, für einen Monat.6 Otto und seine Mutter Franziska Tausig wurden unterdessen von der SS gezwungen, ihre Wohnung zu räumen und zu den Großeltern in der nahe gelegenen Schelleingasse zu übersiedeln. 7 Der Vater wurde schließlich entlassen, es gelang der Familie aber nicht zu emigrieren, weil sie keine Einreisegenehmigungen bekommen konnten. Im Jänner 1939 beschlossen Aladar und Franziska Tausig, wenigstens ihren Sohn mit einem Kindertransport der Quäker nach England in Sicherheit zu bringen, während sie selbst weiterhin in Wien blieben. 8 Franziska Tausig hätte durch eine britische Einreisegenehmigung sogar die Möglichkeit gehabt, ihrem Sohn zu folgen, sie entschied sich aber gegen die Trennung von ihrem Mann, den sie nicht alleine zurücklassen wollte. Mit Glück konnten die beiden schließlich zwei Schiffsfahrkarten nach Shanghai erwerben.9 Ende April 1939 fuhren sie per Zug nach Hamburg, wo sie tags darauf an Bord des Schiffes Usaramo gingen – ein Dampfer der Deutschen Ost-Afrika Linie, der sie nach Shanghai brachte. 10

Nach seiner Ankunft in England hielt sich Otto Tausig zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Später bekam er ein Stipendium an der Londoner Universität zuerkannt. Zu seinem Antritt als Student an der Londoner Universität sollte es aber nicht mehr kommen: Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er zum enemy alien erklärt und verbrachte zwei Jahre in einem Internierungslager auf der Isle of Man. Nach seiner Entlassung nahm er eine Stelle in einer Londoner Fabrik an und schloss sich der kommunistisch dominierten Jugendgruppe Young Austria an. Neben seiner politischen Tätigkeit fand Otto Tausig zu seinem Lebensthema: dem Theaterspielen. 11

Während ihr Sohn sich in England um seine Studienzulassung bemühte, erreichten Franziska und Aladar Tausig im Mai 1938 Shanghai. Franziska Tausig kam in einem Restaurant als Mehlspeisenköchin unter und konnte auf diese Weise zumindest ein karges Einkommen sichern. Ihr Mann erkrankte bereits kurz nach der Ankunft und sollte sich nie mehr richtig erholen. Im Jahr 1943 mussten die beiden ins Ghetto Hongkou übersiedeln, wo sie die Bewirtschaftung einer kleinen Bäckerei übernahmen.12 Aladar wurde wenig später aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung ins Spital eingeliefert, wo er am 13. August 1943 verstarb.13 „Der Tod, der überall lauerte – Cholera, gelbes Fieber, Tuberkulose und der Fäulnisgeruch – hatte ihn ereilt“ 14, wie seine Witwe später schrieb.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Otto Tausig im April 1946 nach Wien zurück.15 Seine Mutter gelangte erst zwei Jahre später wieder in ihre Heimatstadt, wo sie nach neun Jahren erstmals wieder ihren Sohn sah. 16 Wie Franziska Tausig verließen fast alle, die in den 1930er-Jahren als Flüchtlinge nach Shanghai gekommen waren, die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder. Viele von ihnen hatten in den Jahren der Verfolgung begonnen, von einem Leben in Sicherheit und Frieden in einem eigenen jüdischen Staat zu träumen. An dessen Aufbau wollten sie nun mitwirken.

2014 wurde an der Kreuzung Karlsgasse/Gußhausstraße ein Platz in Wien-Wieden auf Initiative der Bezirksvertretung nach Otto und Franziska Tausig benannt. (Foto: Tom Juncker)

 MATTHIAS KAMLEITNER

 

  1. 1) Vgl. Steve Hochstadt, Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China, Teetz-Berlin 2007, 12
  2. 2) Vgl. Steve Hochstadt, Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China, Teetz-Berlin 2007, 71.
  3. 3) Vgl. Steve Hochstadt, Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China, Teetz-Berlin 2007, 110-114.
  4. 4) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 243, AFB-Nr. 8464 (Aladar Tausig).

  5. 5) Vgl. Otto Tausig, Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte, Wien 2010, 8.
  6. 6) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 243, AFB-Nr. 8464 (Aladar Tausig).
  7. 7) Vgl. Otto Tausig, Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte, Wien 2010, 24; Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 29-30.
  8. 8) Vgl. Otto Tausig, Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte, Wien 2010, 10; Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 22-23.
  9. 9) Vgl. Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 31
  10. 10) Vgl. Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 33-36; Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 243, AFB-Nr. 8464 (Aladar Tausig).
  11. 11) Vgl. Otto Tausig, Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte, Wien 2010, 34-47, 55-66.
  12. 12) Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht und Exil einer Wienerin, Wien 1987, 66-117
  13. 13) Vgl. Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 93-94; Yad Vasehm, Datenbank, URL: http://db.yadvashem.org/names/search.html?language=de (Eintrag Aladar Tausig, 9. 6. 2015).
  14. 14) Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht u nd Exil einer Wienerin, Wien 1987, 93.
  15. 15) Vgl. Otto Tausig, Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte, Wien 2010, 73.
  16. 16) Vgl. Franziska Tausig, Shanghai-Passage. Flucht und Exil einer Wienerin, Wien 1987, 64, 154.

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