Fluchtland: Frankreich

Peter Blau gelang über Frankreich die Flucht in die USA. (Foto: University of North Carolina)

Eine erste Gruppe von Verfolgten, vornehmlich politische Oppositionelle, hatte nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland 1933 relativ unkompliziert nach Frankreich fliehen können. Da der französische Staat von der Weltwirtschaftskrise stark getroffen war, wohl aber auch, um sich als Fluchtziel unattraktiver zu machen, schloss die Pariser Regierung 1935 faktisch den Arbeitsmarkt für Flüchtlinge. Aufgrund der massiven Fluchtbewegungen im Gefolge des „Anschlusses“ Österreichs erschwerte Frankreich ab April 1938 auch die Einreise: Zusätzlich zu einem gültigen Reisepass war von nun an ein Visum vorzulegen, dessen Vergabe an strenge Kriterien geknüpft war. Wer aus dem Gebiet des Deutschen Reiches stammte und sich nach Kriegsbeginn in Frankreich aufhielt, wurde nun als „feindlicher Ausländer“ klassifiziert. Im September 1939 ließ die französische Regierung 15.000 EmigrantInnen im Alter von 17 bis 65 Jahren inhaftieren. Zu Beginn des darauffolgenden Jahres wurden viele der unverdächtigen Flüchtlinge wieder auf freien Fuß gesetzt, wobei österreichische gegenüber deutschen Flüchtlingen bevorzugt wurden. Zu neuerlichen Internierungen kam es, als im Mai 1940 die deutsche Wehrmacht das benachbarte Belgien besetzte. Vielen wurde damit die geplante weitere Flucht in Überseeländer unmöglich gemacht, weshalb sie nach der Besetzung Frankreichs in die Hände der Besatzer fielen oder diesen durch das – nunmehr im noch nicht besetzten Süden Frankreichs herrschende und mit dem Deutschen Reich kollaborierende – Vichy-Regime ausgeliefert wurden.1

 

Zum Beispiel: Peter Blau

Mindestens sechs WiednerInnen wurden zwischen 1939 und 1940 als Deutsche StaatsbürgerInnen in französischen Sammellagern wie Gurs, Le Milles und Bordeaux interniert. Zu diesen zählten neben der Familie Nelken und dem in der Preßgasse lebenden2 Musikjournalisten Hans Ewald Heller 3 auch der 1918 in Wien geborene Peter Blau, der bis zu seiner Flucht in der Wiedner Hauptstraße lebte und eben erst mit seinem Medizinstudium an der Universität Wien begonnen hatte.4 Blau war der Polizei bereits seit der Zeit des Austrofaschismus als Mitglied des sozialistischen Untergrundes bekannt. Er hatte Artikel für die illegale sozialdemokratische Arbeiterzeitung geschrieben und war dafür als Jugendlicher im Alter von 17 Jahren sogar im Gefängnis gesessen. Blau wusste, dass er als Linker und Jude bald ins Visier der Gestapo geraten würde und plante daher, unmittelbar nach dem „Anschluss“ in die Tschechoslowakei zu fliehen. Weil aufgrund des Flüchtlingsansturms die offiziellen Grenzübergänge geschlossen wurden, versuchte Blau über die „grüne Grenze“ – also illegal abseits offizieller Grenzübergänge – zu gelangen, wurde aber von einer deutschen Polizeistreife entdeckt und festgenommen. Er wurde mehrere Monate inhaftiert und im Verlauf der Haft auch gefoltert. Nach seiner Freilassung flüchtete er umgehend in die Tschechoslowakei, die jedoch im März 1939 von der Wehrmacht besetzt wurde. Um noch einmal seine Eltern zu sehen, kehrte Blau daraufhin zunächst zurück nach Wien. Schon wenig später gelang es ihm, ein französisches Visum zu erhalten, das ihm die Flucht nach Frankreich ermöglichte. Nach seiner Ankunft wurde Blau jedoch für mehrere Monate im Lager Bordeaux interniert. Im August 1939 erhielt er schließlich ein US-amerikanisches Visum. Nachdem er aus dem Internierungslager entlassen wurde, begab er sich in die Hafenstadt Le Havre, wo er abermals Glück hatte: Er kaufte ein Ticket für das letzte zivile Schiff, das Le Havre in Richtung USA verließ und erreichte mit diesem New York. Nachdem ihm die US-Staatsbürgerschaft verliehen worden war, diente Blau von 1943 bis 1945 in der US-Army. Seine Eltern, die in Wien zurückgeblieben waren, waren 1942 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz/Birkenau deportiert und ermordet worden.5 Peter Blau studierte nach dem Krieg Soziologie an der Columbia University in New York und wurde einer der renommiertesten Sozialwissenschafter seiner Generation.

MATTHIAS KAMLEITNER

  1. 1) Vgl. Kristina Schewig-Pfoser/Ernst Schwager, Österreicher im Exil. Frankreich 1938-1945. Eine Dokumentation, Wien-München 1984, 6-8.
  2. 2) Vgl. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2590, 90, AFB-Nr. 19782 (Franz Heller).
  3. 3) Vgl. Kornberger/Ewald Heller, Österreichisches Musiklexikon Online, URL: http://www.musiklexikon.ac.at (20. 8. 2015).
  4. 4) Vgl. Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=13504 (Eintrag Peter Blau, 20. 8. 2015).
  5. 5) Vgl. Reva Blau, Peter Michael Blau. Biographical Memoirs, in: Proceedings of the American Philosophical Society 154 (2010) 3, 317–320, 319–320; Peter Blau, A Circuitous Path to Macrostructural Theory, in: Annual Review of Sociology 21 (1995), 1–20, 1–2.

Flucht & Vertreibung